Ich genoss jede U-Bahnfahrt. Dass Russland die schönsten U-Bahnen hat, weiss man seit Tucker Carlsons Interview mit Putin. - Mit der grünen von der Wassilewskji-Insel ins Zentrum und darüber hinaus bis an die Endstation Rybatskoye. Auch die Station Frunzenskaya musste wiederholt angepeilt werden. - Von Elena G. wurde ich im Auto in der ganzen Stadt und in sonnig hellen Tagen über sie hinaus am finnischen Busen entlang nordwärts gefahren. Auch auf die Insel Kronstadt, wo bis heute die militärischen Häfen der Stadt liegen.
Auch besuchte ich die unbewohnte, künstlich angelegte Flussinsel Neu Holland, deren Bebauungsgeschichte viel zu spannend ist, um sie hier nur zu streifen. Einer der Eingänge in das Gebiet der Lagerhallen mit dem eindrücklichen Torbogen (der die Entlassung des Architekten zur Folge hatte, was zur spannenden Geschichte gehört) habe ich fotografiert und gefilmt. Ein mysteriöser Ort. Die ungewöhnliche Höhe des Eingangs kam wegen der Idee des besagten Architekten zustande, Holzstämme vertikal einzulagern, um in den Lagerhallen Platz zu sparen. Da muss man erst mal drauf kommen… (es war nicht dies der Entlassungsgrund) !
Die quirligsten und belebtesten Momente fanden auf den Nebenstrassen des Newskij-Prospekts und an den von ihm überbrückten Kanälen statt. Der Newskij-Prospekt endet am Neva-Fluss beim Winterpalais der Zarenfamilie (der Heremitage). Immer wieder fand ich mich auf der Admiralbrücke, eines der lebensfroh pulsierenden Stadtzentren ein. Lebensfroh? Ja, lebensfroh!
In den Wochen meines Aufenthalts hörte ich in den Kreisen, in denen ich verkehrte, nicht ein einziges Mal von einem Ukraine-Krieg. - Im Westen hingegen war es in jenen Tagen Thema Nummer eins. Als mir Familienangehörige die besorgte Frage stellten, ob ich nicht wegen dem drohenden Bürgerkrieg um den Wagner-Chef Jewgenj Prigoschin lieber nach Hause kommen sollte, machte ich mir, fern von allen EU-Ländern, einmal mehr bewusst, warum es ohne Medienpropaganda und tägliche Beschallungslügen heute keine Kriege geben könnte. Die aus den transatlantischen ThinkTanks gezogenen Chefredakteure - sie denken wirklich wie Tanks - sind die Hauptakteure bei ihrer Vorbereitung und möglichst blutigen Ausweitung. - Nun, ich meldete die Bürgerkriegsgefahr meinen Freunden, die mir widerwillig versprachen, sich wieder einmal die russischen Politnachrichten anzusehen. Doch war und blieb der Grundtenor vor und nach ihrer politischen Weiterbildung: "Ein Sturm im Wasserglas. Die Militärs haben Zoff wegen irgendwas, was weiter uninteressant ist. Und da ist der ehrgeizige Prigoschin halt durchgedreht, und die werden das jetzt auch unter sich ausmachen.” - Genau so war es dann ja auch.
Warum vorwiegend die urbane Jugend in Moskau und Sankt Petersburg den Krieg in ihrem Bewusstsein aussen vor und sich von ihm nicht beeinträchtigen liessen, mag wohl Gründe haben, die ich als über Helsinki reinspazierter Schweizer in kultureller Friedensmission nicht durchschaut habe. Die in vielen Jahrzehnten in die Grundgewohnheiten übergegangene Vorsicht, sich, so lange es geht, nicht auf die internationalen Machenschaften der Regierung einzulassen, mag wohl eine Rolle dabei spielen: die mit Überzeugung gelebte “apolitische Lebensform” als Schutz der eigenen Gesundheit und Lebensfreude. Ich hatte auch keinen Einblick in den Rekrutierungsprozess der Armee und wer wo sich vom Marschbefehl bedroht fühlte und habe auch niemanden in dieser Situation kennengelernt, sodass ich hier gewiss nur die eine Seite der Medaillie wiedergegeben habe: den hoffnungsgewissen Blick in die Zukunft.
Wie oft dachte ich in jenen Tagen an Andrei Bely, den russischen Schriftsteller, der einige Jahre Rudolf Steiner nachreiste, um von ihm zu lernen, am ersten Goetheanum schnitzte und dann zurück nach Sankt Petersburg reiste, um als Soldat seinem Heimatland zu dienen. In seinem berühmten Roman Sankt Petersburg ist ein Kapitel mit Der Newskij-Prospekt überschrieben. Darin wird eine Novemberstimmung und ein dazu gehöriges Gefühl beschrieben, das sich vor über hundert Jahren auf der entgegen gesetzten Seite meines inneren Globus abgespielt haben musste, und von einem sehr merkwürdigen Alexander Iwanowitsch Dudkin handelt. Da las ich:
Alexander Iwanowitsch Dudkin folgte seiner eigenwilligen Schulter, dem Gesetz der Unteilbarkeit des menschlichen Körpers gehorchend; so wurde er auf den Newskij-Prospekt geschleudert; wie ein Kaviarkörnchen wurde er in einen dicken Brei hineingedrückt.
Was ist ein Kaviarkörnchen? Es ist eine Welt und ein Konsumtionsgegenstand zugleich; als Konsumobjekt stellt das Kaviarkörnchen keine befriedigende Einheit dar; diese Einheit ist der Kaviar selbst: die Gesamtsumme der Kaviarkörnchen; der Konsument kennt keine Kaviarkörnchen, er kennt den Kaviar, den er auf das Butterbrot gestrichen bekommt. So werden Körper, einzelne Individuen, die auf das Trottoir des Newskij-Prospekts hineingeraten, zu einem Teil eines größeren Körpers, sie werden zu Körnchen des Kaviars: die Trottoire des Newskij-Prospektes sind die Butterbrotflächen. Dasselbe geschah auch mit Dudkins Körper, der aufs Trottoir geriet; dasselbe geschah auch mit seinen ihn beschäftigenden Gedanken: er verschmolz sich mit einem fremden, mit dem Verstand nicht zu fassenden Gedanken — dem Gedanken des riesigen, vielbeinigen Wesens, das durch den Newskij-Prospekt zog.
(Vergleiche mein Video)
Nach langen Streifzügen, die immer wieder den Newkij-Prospekt erreichten und überquerten, und die ich nicht beenden wollte und die mich auch den Zeitpunkt der letzten U-Bahn um 01:00 vergessen liessen, folgte noch die für einen der russischen Sprache Unkundigen aufreibende Taxibuchung und, war sie geglückt und hatte man sich gefunden, die schnelle Fahrt durch die nie ganz dunkle Nacht. Die Tempolimits verstanden die Taxifahrer höchstens als freundliche Empfehlungen, die, wenn sie stur eingehalten wurden, nicht zu wilden Hupkonzerten wie in südlichen Ländern, sondern zu erstaunlichen Überholmanövern der grossartigen Fahrer Anlass gaben. Ich führte einige unvergessliche Gespräche mit ihnen und sie brachten die beträchtlichen Strecken (ich musste sie mit denen in Bern, Basel und Zürich vergleichen) mit durchschnittlich 90 kmh auf Strassen, die um jene Zeit wenig befahren wurden, hinter sich, indem sie links und rechts auf den oft sechsspurigen Highways überholten, sodass es für einen choreographischen Tanzliebhaber eine wahre Freude war.
Zu Hause bevölkerten dann alle die russischen Gestalten und Begegnungen des Tages die Träume des in Sommernächten nie langen Schlafes.
(Bitte Video nur im Vollbildmodus anschauen!)
Erlebte ich alle die sechs Wochen als eine einzige, lichtvolle Jubelfeier mit russischen Freunden und Freundinnen ? - Nein, nicht doch! Ich kam nicht nur mit Freude, sondern auch mit Erwartungen ins Land. Ich war ja nicht das erste Mal hier. - Man soll keine Erwartungen haben, sagen Neo-Buddhisten, bemühte Geistsucher und träge Geniesser. Gewiss, wer erwartet, wird auch enttäuscht. - Doch kommt es für wirkliche Geistesschüler darauf an, so schnell wie möglich den Grund für die Enttäuschung sich ehrlich vor Augen zu führen und das Untersuchungsergebnis ins geistgewobene biographische Netz einzubetten. Das gelingt, wenn man nicht nur weiss, sondern das Wissen auch mit Freuden fühlt: es konnte gar nicht anders sein.