In manchen Jahren zuvor sass ich jeweils am 24. Juni, oft zusammen mit Schulkindern und ihren Eltern, um irgendein Johannifeuer. Auf den Jurahöhen, am Thunersee, im Schwarzwald oder im Säntisgebiet. Mit Menschen, die sangen, von Gitarrenklängen begleitet. In weiter zurückliegenden Jahrzehnten gab es auch Bongo und Tablaklänge und Joints dazu, aber das Wichtigste war immer das Feuer, das je grösser, je besser war. Es dauerte jeweils Stunden, bis es genügend herunter gebrannt war, dass man, meist um Mitternacht oder danach, es wagen konnte, über die kleiner werdenden Flammen zu springen. Ich war gern unter den ersten, die sprangen, doch habe ich diejenigen bewundert, die barfuss durch die Glut gingen. Wir erlebten die längsten Tage, die kürzesten Nächte und das Feuer war heilig. Darauf wurden nunmal keine Würste gebraten.
Nun freute ich mich vor einem Jahr in Sankt Petersburg auf eine nächtliche Runde um ein Feuer mit meinen jungen russischen Filmfreunden und begann, nachmittags herum zu telefonieren, um sie zusammen zu trommeln. Doch hatte niemand Zeit noch Lust, mich zu sehen. Gut, ich begriff, dass ich für die junge Generation womöglich eine Spassbremse sein könnte, umso mehr, als sie von einem grossen Fest und vielen Schiffen, welche die Newa hinab an die Ostsee schwämmen, und unter ihnen eben auch von einem sehr grossen, geheimnisvollen Segelschiff mit einem feuerroten Segel sprachen. Und da strömten sie denn alle hin, ohne mich mit genauen Ortsangaben zu belasten.
Ja klar, fremde Länder, fremde Johanni-Sitten, dachte ich. Es muss ja nicht unbedingt ein Feuer sein. Holz ist in diesen Gegenden auch rar, ich verstehe. Ich sitze also in der Küche meiner Mietwohnung und blicke aus dem 9. Stock hinunter auf die Newa. Da beginnt am Horizont ein Feuerwerk sich zu entwickeln, wie ich kaum je ein grösseres gesehen habe. Ich hole mein Smartphone und beginne zu filmen.
Ich gehe ins Internet, um mich über den russischen Johanni-Festbrauch kundig zu machen und entdecke, dass es ihn in Russland als christianisierte, alte Sonnwendfeier gar nicht gibt, und dass der Täufer Johannes im Tiefwinter des 6. Januars, am Tag der historischen Taufe von Jesus Christus im Jordan, gefeiert wird. Warum dies nach orthodoxem Kalender auch Weihnachten ist, ist eine andere, bedeutende Geschichte, die nicht allein mit dem Unterschied des julianischen und des gregorianischen Kalenders erklärt werden sollte. - Eine andere tiefsinnige Tradition setzte des Täufers Wort über Jesus Christus “Er muss zunehmen, ich aber abnehmen” in das Verhältnis der inneren Seelensonne, die im Tiefwinter geboren wird, und verband das Naturerleben des höchsten Sonnenstandes des Jahres (auf der Nordkugel der Erde) mitsamt der alten, heidnisch germanischen Hochsommerfeier mit der Opfergestalt des Täufers, der dem Messias die Wege bereitete.
Was das auch nach einer halben Stunde noch immer pulsierende Feuerwerk am Fensterhorizont betraf, so war ich auch nach den gewonnenen Informationen gleich ratlos wie zuvor. Erst die Tage danach wurde ich darüber aufgeklärt. Man feiert in Russland, oder zumindest in Sankt Petersburg, das Ende der Schuljahres für alle Schüler und Studenten an diesem Tag. Nicht jedes Jahr, aber 2023 fiel “unser Johanni” auf “ihren Samstag”. Mit ihm begannen die langen Sommerferien und die Segelschiffsarmada auf der Newa leitete den Beginn der sommerlichen Ferientage ein. Das purpurrote (oder feuerrote) Segelschiff erinnert an eines der beliebtesten Kunstmärchen der Russen, das von Alexander Grin stammt und ich danach mit Genuss in einer deutschen Übersetzung las (russisch: Алые паруса). Die Geschichte vom Matrosen Longgreen, der Segelschiffe schnitzt und seiner Tochter Assol, die sie verkauft und von einem Prinzen träumt, der sie auf einem Schiff mit purpurroten Segeln in ihrem Nest abholen kommt, kennt dort jedes Kind.
1961 wurde die Geschichte von Alexander Ptuschko verfilmt und im ganzen damaligen Sowjetreich mit Erfolg vorgeführt. Je autoritärer die Staatsverhältnisse im Reich der Bolschewiken waren, umso schöner ihre Kinder-Märchenfilme, nicht nur in Russland, sondern auch in der DDR, Polen und vor allem in Tschechien. Dieses Filmgenre gab es im freien Westen der 60-er Jahre wiederum nicht. Da blühte der persönliche Freiheitskult, der auf Märchen antipathisch reagiert.
Inzwischen bin ich auch stolzer Besitzer der DVD der damals hergestellten DDR-Fassung. Wenn ich in Zukunft noch einmal in dieser Jahreszeit in Sankt Petersburg sein sollte, so werde ich nach dem purpurroten Segelschiff und nicht mehr nach einer Menschenrunde Ausschau halten, die auf der Wiese um ein Feuer sitzt.
Ich stehe also in der dunklen Küche eines der mächtigen Wohnblocks und erblicke am Ufer der Newa eine kleine Bucht mit einigen festgemachten Schiffen, unter einer grossen Autobahnbrücke. - Bevor mich die Melancholie ganz einfängt, will ich mir eine Johanni-Nacht verschaffen, wenn es sein muss, ganz allein. Die Hundert-tausenden von Studenten, die ihre Freunde aufsuchen, machen es ganz richtig. Ich absolviere das übliche Schlüssel Auf- und Zu- und Auf- und Zu-Prozedere, bis ich den Lift erreiche, wo dann nur noch einmal der Schlüssel zu drehen ist. Ich filme und kehre nach Stunden erschöpft und glücklich über das Erlebte wieder ins Haus. Immerhin: ich habe im Sand liegend von grossen Segelschiffen geträumt und ein Schiff in der Luft schweben sehen, bewacht von einem ebenso einsamen Mann wie ich. Auch näherte ich mich über Schiffsstege knallbunten Booten, die wie Autocabriolets aussahen. Als ich müde erneut mit einer Aufschliessorgie beginne (im Dorf, wo ich wohne, stehen die meisten Häuser offen), wird der Himmel bereits von den ersten Lichtstrahlen gekämmt.
Die denkwürdige Sankt Petersburger Johanni-Nacht des Jahres 2023 (Vollbild an!)
Zugabe: Gedicht JOHANNI von Johan Reinitzer
erschienen in “Wie Sterne bei Tage”, tredition GmbH, Hamburg 2020
Das ist die Zeit, die brennende, im Herzen so tief,
dass ein Erinnern daran ist wie der Sturz in loderndes Feuer.
Verbrennen … das ist der Seele göttliche Feier:
Gespeist vom Traum der Liebe fliegen die Flammen dahin und erleuchten die Augen,
das Grosse zu sehn: am Himmel die Gründe, was hier auf Erden
als Rose blüht.